Zitronenfalter I

Mit feuchten Blicken und mit träumerischen Sinnen

Zitronenfalter I

Aufrechten Hauptes eine Jungfrau eifrig schrieb.

Da blitzt' ein Maigewittersturm herein und trieb
Kastanienblüten streuend auf die nassen Blätter.
Und mitten in dem Blütensturm und Maienwetter
Ein gelb Oranien-Vögelein, im Todesbangen
Zitternd und sterbend, blieb an ihrem Finger hangen.

Da holte sie ein neu' Papier mit sachter Hand,
Und auf den Tisch gebeugt, seitwärts das Haupt gewandt,
Mit feuchten Blicken und mit träumerischem Sinnen
Entschloß sie sich, ein ander Schreiben zu beginnen.

Also mit seinem Sterben ein Zitronenfalter
Erschmeichelte das Lebensglück dem Brieferhalter.

Carl Spittlerer

Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem

Zitronenfalter II

Zitronenfalter II

"Geh weg! du häßlich Gretchen! Was kommt dir in den Sinn,
So nah' bei mir zu stehen, die ich so lieblich bin?"
So rief die schöne Stephie. - Da kam ein gelbes Ding
Von Schmetterling geflogen, den sie behende fing.

Das Gretchen trat daneben, vergessend ihren Zwist:
"Nicht wahr? du läßt ihn leben? - Da er so lieblich ist."

Carl Spittlerer

Carl Spittlerer (1845 – 1924), Schweizer Dichter, Romanautor, Schriftsteller. Nobelpreis für Literatur 1910. Pseudonym: Carl Felix Tandem