Waldwege

Ich ging denselben Waldweg heut

 Waldwege

Ich ging denselben Waldweg heut',
Den ich mit dir, mein Lieb, gegangen,
Als über uns, im jungen Grün,
Die ersten Frühlingslieder klangen.

Wir sprachen kaum, doch jeder Blick,
Ein Werben war's, ein heimlich Bitten,
Und zwischen uns, auf schmalem Pfad,
Ist still die Liebe hingeschritten.

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Wie liegt der Tag so weit, so weit!
Das grüne Laub giebt tiefen Schatten,
Die Vögel tragen schon zu Nest,
Die damals hell gesungen hatten.

Ich war allein heut' und mein Herz
Erzitterte in bangem Lauschen,
Mir war's, als kläng dein "Lebewohl"
Noch einmal durch der Zweige Rauschen. 

Anna Ritter

Anna Ritter, geborene Nuhn (1865-1921), deutsche Schriftstellerin, Dichterin

Herbst

Gelbe Vögel fliegen durch die Luft

Herbst

Gelbe Vögel fliegen durch die Luft,
Wirbeln nieder zu der Erde Feuchte, 
in bewegter, laubdurchstäubter Duft
Füllt der Bäume herbstliches Geleuchte.

Mit gelösten Fingern greift der Wind
Durch der Zweige flatterfrohe Saiten,
Weit, auf dunklen Rossen, pfeilgeschwind
Seh ich rote Wolkenfrauen reiten.

Vor des Herrschers Tigerfleckenheer
Nahen kühn des Nordens Nebelriesen,
Jauchzen dröhnt und Jubel schwingt umher.
Seine Fülle faßt nicht Wald noch Wiesen.

Singe, Herz, und töne hell hinein In des Königs reifestarkes Jagen, Wann der Stürme Fiedeln und Schalmein
Toll umsausen seinen Krönungswagen.

Letzte Rosen ihm am Gürtel blühn.
Golden greift die Krone nach den Sternen,
Dionysisch wallt im Purpurglühn 
Sein Bacchantenzug in trunkne Fernen.

Maria Stona

Maria Stona, geborene Maria Scholz (1861 – 1944), Dichter, Schriftstellerin, Sallonieré. Pseudonyme: Maria Stonawski, Maria Stona

Herbst

Ich lieb den Herbst, im Blicke Trauer

     Ich lieb den Herbst, im Blicke Trauer.
    In stillen Nebeltagen geh
    Ich oft durch Fichtenwald und seh
    Vor einem Himmel, bleich wie Schnee,
    Durch Wipfel wehen dunkle Schauer.
    Ich lieb, ein herbes Blatt zu Brei
    Zu kauen, lächelnd zu zerstören
    Den Traum, dem wir so gern gehören.
    Fern des Spechtes scharfer Schrei!
    Das Gras schon welk … schon starr vor Kühle,
    Von hellen Schleiern überhaucht.
    In mir das Weben der Gefühle,
    Das Herz in Bitternis getaucht …
    Soll ich Vergangenes nicht beschwören?
    Soll, was da war, nie wieder sein?
    Die Fichten nicken dunkel, hören
    Gelassen zu und flüstern Nein.
    Und da: ein ungeheures Lärmen,
    Ein Ineinanderwehn von Zweigen,
    Ein Rauschen wie von Vogelschwärmen,
    Die, einem Ruf gehorchend, steigen. 

Iwan Sergejewitsch Turgenjew

Iwan Sergejewitsch Turgenew – Иван Сергеевич Тургенев (1818 – 1883). russischer Dichter, Schriftsteller, Dramatiker, Erzähler

Leider sind die russischen Webseiten zur Zeit kaum zu erreichen und sehr unsicher. Sobald sich die Lage nicht ändert, kann ich nicht das Original auf russisch auf meine Webseite zeigen.

Gemälde: Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818 – 1883)